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An der Kasse in der Migros

Ursi Gasser Ursi Gasser

Andere zu bewerten und bewertet zu werden gehört in unserer Gesellschaft zum Alltag. Doch was macht es mit uns?

An der Kasse in der Migros fühle ich mich immer beobachtet. Nicht nur wegen meines Dreijährigen, der mit dem Kindereinkaufswagen wie ein abgeschossener Pfeil hin und her flitzt, sondern wegen dem, was auf dem Förderband liegt: Ein Berg Fleisch und einige Packungen Schweizer Guetzli.

Lautlose Gespräche
Beim Anstehen an der Kasse spricht man ja nicht miteinander. Aber man schaut. Und man denkt: "Was, so viel Fleisch? Was will die denn mit all dem Fleisch?" Oder: "Kein Gemüse? Und die hat ein kleines Kind! Rabenmutter!" Ich verteidige mich dann in Gedanken so: "Wir haben nun mal ein Grillfest, das Fleisch esse ich ja nicht alles selbst." Oder: "Wissen Sie, das Gemüse kaufe ich dann beim Bio-Bauer. Extra gesund für meine Kinder. Und den Rest hole ich beim Aldi. Aber dort gibts keine feinen Schweizer Guetzli."
Ich weiss nicht, ob die Menschen, die an der Kasse auf das Förderband starren und schweigen, das wirklich alles denken. Aber ich habe mich selbst schon dabei ertappt, wie ich solche Dinge gedacht habe. Wie ich das Einkaufsverhalten von anderen beobachtet und bewertet habe - völlig moralisierend.

Die sogenannt richtigen Meinungen
Kürzlich stiess ich beim Lesen der NZZ auf einen Artikel, der mich zum Nachdenken angeregt hat. "Es gibt Dinge, die sind furchtbar einfach: Wer Fleisch isst, handelt verantwortungslos, wer Auto fährt und sein Haus mit Öl heizt, vergeht sich vorsätzlich an der Umwelt", schreibt Autor Thomas Ribi in seiner Einleitung. Er meint es ironisch. Er kritisiert in seinem Artikel eine Tendenz in der linksliberalen Politik, die nur noch die sogenannt "richtigen Meinungen" zulässt. Richtige Meinungen wie die oben genannten. Er schreibt: "Wer schon einmal versucht hat, herrschende Positionen des Genderdiskurses, der Flüchtlingsdebatte oder unseres mehr von Modetrends als von Vernunftgründen bestimmten Umweltverhaltens infrage zu stellen, weiss, wovon die Rede ist." Er fügt hinzu: "Die Toleranz endet, wo jemand die Unverschämtheit besitzt, eine andere Meinung zu haben", und kritisiert die heute vorherrschende Moral, die lautet: "Richtig ist, was gut ist."
Ja eben - was ist denn gut? Was ist schlecht? Was ist richtig? Und was ist falsch?

Stempel und Vorurteile
Empfinde nur ich das oder leben wir tatsächlich in einer Welt, in der jeder und alles bewertet wird, selbst das, was ich in der Migros aufs Förderband lege?
Ich frage mich, wie viele Stempel ich täglich von meiner Umwelt aufgedrückt bekomme und wie viele Stempel ich täglich anderen aufdrücke:
"Die ernährt sich richtig ungesund. Und schau ihr Kind an. Voll überdreht von all dem Zucker!" Oder: "Dein Kind ist ein rechter Rüpel!"
Solche Gedanken sind schnell gedacht und bleiben oft unausgesprochen, gefolgt von einem Gefühl der Überlegenheit. Sich ehrlich damit auseinanderzusetzen, warum ein Mensch auf diese oder andere Weise handelt und denkt, ist anstrengend. Schnelle Vorurteile und Rückschlüsse gehen einfach von den Lippen.

Ein einfacher Rückschluss
Auch Jesus wurde vom damaligen politischen und religiösen System mit unzähligen Stempeln versehen. Er dachte und handelte anders, als es die Menschen von ihm erwarteten. Viele verurteilten ihn und wollten ihn lieber loswerden, als sich ehrlich damit auseinanderzusetzen, was er sagte und tat.

Als er am Kreuz hing, verspotteten sie ihn: "Anderen hat er geholfen! Wenn er wirklich der Christus ist, der von Gott gesandte Retter, dann soll er sich jetzt doch selber helfen!"
Wer anderen helfen kann, kann auch sich selbst helfen. Ein einfacher Rückschluss. Ein schneller Stempel. Doch konnte Jesus das? Oder wollte er es überhaupt?

Mehr als das Offensichtliche
Jesus ging entschieden seinen Weg bis in den Tod. Er ertrug den Spott, die Lästereien und die körperlichen Misshandlungen des damaligen Systems, weil er mehr sah als das Oberflächliche, das Offensichtliche. Er wusste, was wirklich vor sich ging: Er trug in seinem Tod die Schuld der ganzen Menschheit, damit wir Versöhnung mit Gott, dem Vater und mit uns selbst erleben dürfen.

Jesus verurteilte niemanden. Er drückte keine Stempel auf. Er sah in die Herzen der Menschen. Als die religiösen Führer eine Ehebrecherin zu ihm brachten, um sie für ihr Vergehen zu steinigen, sagte er zu ihnen: "Wer von euch noch nie gesündigt hat, soll den ersten Stein werfen!" Und zur Ehebrecherin: "Ich verurteile dich nicht. Geh, aber sündige nicht mehr."

Was würde es bedeuten?
Was würde es bedeuten, wenn wir Menschen einfach so annehmen, wie sie sind, ohne sie zu bewerten oder ein schnelles Urteil zu bilden? Könnte es sein, dass darin eine ungeahnte Freiheit liegt? Weil wir dann auch uns selbst so annehmen können, wie wir sind, unperfekt, in vielem nach aussen ungenügend, doch bei Gott total genügend und geliebt?

Ursi Gasser

Ursi Gasser

Frau, Ehefrau, Familienfrau, Pflegefachfrau mit Weiterbildung auf Intensivpflege, freischaffende Journalistin

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