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Der Spannungsbogen zwischen Himmel und Erde

Joanna Hunziker-Merk Joanna Hunziker-Merk

Immer wieder kämpfe ich in meinen Gedanken. Schwanke zwischen dem Möglichen, das Gott verheissen hat und der Realität, die anders aussieht. So gerne würde ich das Spannungsfeld auflösen, aber das geht nicht.

#repost: Dieser Artikel wurde am 4. Oktober 2018 erstmals veröffentlicht.

Nun wird unsere Tochter bald jährig und immer wieder staune ich, wie sie sich entwickelt, gesund entwickelt. Was sie alles kann, macht, beobachtet, lernt. Und es fällt mir auf, was unser behinderter Sohn alles nicht kann, nicht macht und gelernt hat. Noch nicht gelernt hat, vielleicht nie lernen wird und wie er dafür anderes gelernt hat. Diese Gedanken zulassen, das wollte ich lange nicht. Vergleichen ist nicht gut. Es bringt ja auch nichts. Doch ich merkte, wie Gott mir etwas sagen möchte. Nämlich, dass da ein "Gesund" ist, ein "Normal", ein "ursprünglich Gedacht".

three green leafed plants
Photo by Daniel Hjalmarsson / Unsplash

Am Anfang war alles gut. So wie Gott die Welt schuf, uns Menschen schuf, was sein Plan und seine Absichten sind, das ist gut. Durch die Sünde kam Krankheit, Tod, Gewalt. Vor dem können wir uns nicht verschliessen, wir können es uns nicht aussuchen, ob wir gesund sind oder krank, ob wir ein gesundes oder behindertes Kind haben. Es ist Teil des Lebens.
Gott hat mir auch gesagt, dass er keinen Unterschied macht, ob wir nun gesund oder krank, normal oder abnormal, ursprünglich gedacht oder ganz anders sind. Er liebt jeden Menschen, unabhängig von Leistung, Fähigkeiten, Aussehen. Seine Annahme und Liebe gilt allen, ob mit oder ohne Beeinträchtigung.

In unserem Denken gibt es so oft eine Wertung, ein Entweder Oder, ein Richtig oder Falsch ein Gut oder Schlecht, ein Besser oder Schlimmer. Keines unserer drei Kinder ist richtig oder falsch, gut oder schlecht. Sie sind unterschiedlich im Charakter und in der Entwicklung, unterschiedlich begabte Persönlichkeiten und vor allem sind sie geliebt! Geliebt von der Familie und geliebt von Gott! Gott macht keinen Unterschied, er lehnt niemanden ab, der in Herausforderungen lebt, von Krankheit oder Beeinträchtigung begleitet wird. Darum darf ich mich an der gesunden Entwicklung unserer Tochter freuen und gleichzeitig den Fortschritten unseres behinderten Sohnes und seinen Defiziten ins Auge schauen.

woman facing Golden Gate Bridge
Photo by Vitaly Taranov / Unsplash

Es ist ein Spannungsfeld. Eine Spannung, die ich gerne auflösen möchte, aber nicht kann. Woran orientiere ich mich? Auf was schaue ich? Bei mir wechselt es. Manchmal sehe ich alles, was klappt, gut geht, die Fortschritte, die Entwicklung. Dann staune ich, was unser behindertes Kind mit der schweren Hirnverletzung alles lernt, kann, realisiert, versteht. Und dann kommen die Momente, in denen seine Defizite so offensichtlich sind. Mit einer jüngeren Schwester, die "aufholt", werden sie deutlich. Der ältere Bruder ist sowieso ausser Reichweite. Und was macht das mit mir? Verschiedenes geht mir durch den Kopf:

Manchmal freue ich mich, weil ich weiss, das sind wir und das ist gut so.
Manchmal weine ich, weil es mich traurig macht und überfordert.
Manchmal mache ich mir darüber gar keine Gedanken und bin einfach, lebe, funktioniere.
Manchmal sehe ich das ganz rational und denke, andere Kinder sind viel stärker beeinträchtigt oder ich denke an all die Paare, die Kinder verloren haben oder keine bekommen konnten.
Manchmal denke ich Gottes Gedanken.

Gottes Gedanke, der sagt, dass er alles wunderbar geschaffen hat, im Paradies, im Garten Eden. Er sagt auch, dass wir nicht mehr dort sind, unsere Leben auf der Erde nicht paradiesisch sind. Da ist Leid, da ist Krankheit, da ist Behinderung.
Er sagt auch, dass er seinen Sohn geschickt hat, um uns von unseren innerlichen und äusserlichen Leiden zu befreien.

person holding yellow and black butterfly
Photo by David Clode / Unsplash

Beim Aufräumen fand ich einen Fresszettel, den jemand meinem Mann an der Regionalkonferenz vergangenen Mai in die Hand gedrückt hatte. Mein Mann hatte damals das Zeugnis von der Geburt unserer gesunden Tochter erzählt. Sie ist ein Wunder. Nach der Geburt unseres behinderten Kindes 2013 sagten die Ärzte, dass ein nächstes Kind höchstwahrscheinlich auch mit einer Hirnblutung auf die Welt kommen würde. Auf diesem Zettel stand, dass der Schreiber während des Zuhörens stark den Eindruck hatte, dass Gott unseren Sohn heilen möchte. Wie genau, ob teilweise oder komplett, das könne er nicht sagen. Er möchte uns Mut machen, Mut zusprechen, dass unser Sohn ein Kämpfer ist! So wie sein Namensgenosse in der Bibel ein Kämpfer war.

Nun frage ich mich, welchen Kampf ich kämpfe? Meinen Kampf? Den Kampf für meinen Sohn? Den Kampf im Gebet für seine Heilung? Oder kämpfe ich vor allem mit meinen Gedanken, die immer wieder sehr menschlich und wenig göttlich sind? Schon in anderen Begegnungen wurde über Heilung gesprochen und dafür gebetet.

Während der Anbetungszeit am letzten Sonntag im Gottesdienst sangen wir das Lied Dein Name:

Dein Name ist ein felsenfester Turm
Dein Name gibt mir Halt in jedem Sturm
Dein Name alle Völker sollen singen
Denn niemand kann erretten als Du Herr
Du hörst den Schrei der Zerbrochenen

Da ist so viel Wahrheit in diesen Zeilen. Wahrheit, die ich erlebt habe während der Risikoschwangerschaft im letzten Jahr. Und heute? Jetzt?
woman praying beside tree
Photo by Ben White / Unsplash

Ich möchte diesen Schrei nicht verstummen lassen, nur weil ich mich an unsere Situation gewöhnt habe. Weil Alltag eingekehrt ist. Ich möchte mich nicht mit meinen eigenen Gedanken quälen und da stehen bleiben. Aufhören, Gottes Gedanken zu denken, zu glauben und daran festzuhalten.

Das Spannungsfeld, den Spannungsbogen kann ich nicht auflösen. Der bleibt bestehen. Ich weiss und verstehe immer mehr, dass es bei Gott nicht entweder oder ist, richtig oder falsch. Auch nicht unbedingt jetzt sofort. Er ist Liebe, Kraft, Heilung, Weg zum Himmel, zum Heil und zur Ewigkeit, wo kein Leid mehr ist.

Unlängst zitierte jemand folgenden Satz:

Manchmal verändert Gott unsere Umstände nicht, damit wir uns verändern müssen.

Unangenehm. Wahrheit. Weisheit. Ein Schlüssel.

Auch wenn Gott unsere Umstände nicht verändert, so ist er es, der an unserer Veränderung mitwirken möchte. Er wartet auf unseren Schrei, auf ein Zeichen, dass wir dies wollen. Veränderung ist Arbeit, darüber habe ich erst kürzlich in meinem Post Ein Platz an der Sonne geschrieben.

Diese Spannungen alleine auszuhalten ist auch Arbeit und anstrengend. Warum nicht Gottes Weg suchen und gehen? Den Weg von der Erde in den Himmel, spannungsvoll, Gott an unserer Seite, mittendrin im Leben. Da will Gott hin, auch in deinem Leben!

Der Spannungsbogen zwischen Himmel und Erde
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