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Vom Perfektionismus (Teil 2)

Emanuel Hunziker Emanuel Hunziker

Perfektionismus ist ein Gedankengut, ein Denkfehler, der so tief in unserer Gesellschaft verankert ist, dass er fast alle Bereiche unseres Lebens betrifft.

Perfektionismus bedeutet nicht, dass Menschen Dinge gut machen, sondern dass Menschen panische Angst haben, dass sie nicht gut genug sind. Sie glauben, sie seien nicht mehr liebenswert, wenn sie einen Fehler machen.

Ich möchte in diesem zweiten Teil die Gedankengänge des Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten Raphael M. Bonelli zum Thema Perfektionismus weiter vertiefen. Bonelli ist ein bekennender Katholik aus Wien und Mitgründer des RPP-Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie.

Fachleute sprechen mittlerweile von einer Perfektionismus-Endemie in der westlichen Gesellschaft. Was eine Endemie ist, lässt sich am Besten im Vergleich zu den etwas bekannteren Begriffen Epidemie und Pandemie erklären.

Das nur vorübergehend oder erst seit kurzem beobachtete gehäufte Auftreten von Krankheitsfällen mit deutlicher Zunahme von Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) und Inzidenz (Neuerkrankungshäufigkeit) wird als Epidemie bezeichnet, soweit es noch regional beschränkt erscheint, und bei länder- und kontinentübergreifender Ausbreitung als eine Pandemie.

Von Endemie wird in der Medizin gesprochen, wenn Fälle einer Krankheit in einer umschriebenen Population oder begrenzten Region fortwährend gehäuft auftreten. Wikipedia

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Leistungswahn

Die unsere Gesellschaft durchdringende Perfektionismus-Endemie äussert sich laut Raphael Bonelli folgendermassen:

Ob in der Erziehung, der Ehe oder im Job – immer wollen wir alles richtig machen. Und dabei auch noch gut aussehen. Doch oft scheitern wir an den eigenen Ansprüchen.

Dass das nicht nur ein harmloser, vorübergehender Trend einer verhätschelten Generation ist, sondern mittlerweile tragische Ausmasse annimmt, zeigt sich beispielsweise an der stark sinkenden Zahl an Menschen mit Trisomie 21 (Downsyndrom). Sie werden in Europa in über 90% der Fälle abgetrieben.

Als eine ältere Dame in der Strassenbahn einer Grossstadt in einem Kinderwagen ein Kind mit Trisomie 21 erblickte, sagte sie zur Mutter: "Na, aber das wäre heute nicht mehr nötig gewesen." In dieser wahrscheinlich unreflektierten Aussage der Dame schimmert unweigerlich die oft unausgesprochene These des Perfektionismus durch: "Wir sind, was wir leisten." Das bedeutet dann traurigerweise eben auch: "Wer nicht leisten kann, ist auch nicht mehr lebenswert."

Raphael Bonelli zitiert in einem Referat zwei europaweite Studien zu den angegebenen Gründen für die Abtreibung von Kindern mit Trisomie 21. Die zwei Hauptgründe lauten:

  1. Kinder mit Trisomie 21 können nicht glücklich werden. Warum? Weil sie keine Höchstleistungen erbringen. Leistung gleich Glück. Die Gleichsetzung "Ich bin was ich leiste und ich bin nur glücklich, wenn ich leiste" ist ein Gedankenfehler, der somit tödlich werden kann.
  2. Wenn ich schon ein Kind kriege, dann doch bitte keines das nichts leisten kann. Daraus wird sichtbar, dass es den Eltern in erster Linie nicht mehr um das Kind geht, sondern um sich selbst. Sie spiegeln sich im Kind. Das Kind ist ein Teil ihrer Selbst. Wenn das Kind leidet, leiden sie selbst. Sie sagen: "Ich brauche ein super Kind, weil ich dann mehr wert bin und wieder etwas geleistet habe."

In Anbetracht solcher Studienergebnisse scheint es mir nicht übertrieben, von einem Leistungswahn zu sprechen, der in unserer Gesellschaft fortwährend gehäuft auftritt.

Wahn ist der Name für einen seelischen Zustand, der von starker Ichbezogenheit und falschen Urteilen über die Realität geprägt ist und so zu unkorrigierbaren Überzeugungen führt. Die Wahninhalte sind vielfältig, kulturell geprägt und historisch bedingt. Wikipedia

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Optimierungswahn

Mit dem Leistungswahn einher geht auch der Optimierungswahn. Kaum eine Handlung im alltäglichen Leben kann mehr ausgeführt werden, ohne dass man danach mit einer äusserst aufdringlichen "Bitte bewerten sie uns, es dauert wirklich nur ganz kurz!" Meldung bombardiert wird. So sehr ich eine gesunde Feedbackkultur schätze, so ermüdend und zeitraubend ist das ausfüllen, respektive "wegklicken" solcher "Bewerte mich" Pop-ups. "Wer nicht optimiert, der stirbt!" oder so ähnlich, lautet das Gesetz des harten Konkurrenzkampfs der freien Marktwirtschaft.

Schönheitswahn

Ein weiterer Wahninhalt ist der Schönheitswahn. Schon die narzisstische Stiefmutter-Königin in Gebrüder Grimms Märchen Schneewittchen fragte ihren allwissenden und sprechenden Spiegel täglich: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" Doch eines Tages änderte der wahrheitssagende Spiegel seine Antwort: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr." Die Königin erblasste vor Neid und Hochmut und beauftragte den Jäger mit einem Mordauftrag. Heute würde sie wohl nicht mehr in den Spiegel schauen, sondern die "Likes" auf Instagram zählen und sich mit allen Profilen anderer vergleichen. Statt eines Mordauftrages würde sie einen Hacker engagieren, der Schneewittchens Insta-Profil hackt und löscht.

Gesundheitswahn

In unserer Überfluss-Gesellschaft weit verbreitet ist auch der Gesundheitswahn, der sich insbesondere im Bereich der Nahrungsmittelaufnahme zeigt. Stichwort Orthorexia nervosa, der vorgeschlagene Name für das Krankheitsbild einer Essstörung, bei der die übermässige Beschäftigung mit der Qualität der Lebensmittel aufgrund selbst auferlegter Regeln zu psychischen und physischen Beeinträchtigungen führen kann. Problematisch sind vor allem Ernährungsphilosophien mit stark ideologischer Komponente, die ihren Anhängern beispielsweise den Schutz vor Krankheiten aller Art versprechen. Der amerikanische Alternativmediziner Steven Bratman schreibt:

Jemand, der den ganzen Tag damit verbringt, nur Tofu und Quinoa-Kekse zu essen, kann sich so heilig fühlen wie jemand, der sein ganzes Leben der Unterstützung der Obdachlosen gewidmet hat.

Folgende Kernkriterien sind laut Bonelli für die Diagnosestellung der Orthorexie hilfreich: (1) ständiges Kreisen der Gedanken um das Essen, (2) Schuldgefühle, falls vom Ernährungsplan abgewichen wird, (3) Gefühl der Überlegenheit gegenüber andersdenkenden Menschen, (4) Missionierungseifer, um andere von seiner Ernährung zu überzeugen, (5) bedeutende negative Auswirkungen auf die Lebensqualität des Betroffenen wie soziale Isolation, (6) die Störung dauert über einen längeren Zeitraum an.

Ob es sich dabei um eine Krankheit oder lediglich um einen »aufwendigen« Lebensstil handelt, wird daran gemessen, zu wie viel Leidensdruck und zu welchem Folgen dieses Verhalten führt. Schwere Gesundheitsschäden bis hin zum Tod können nämlich die Folge sein.

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Schlankheitswahn

Weiter gibt es den Schlankheitswahn. Übergewicht reduzieren ist das eine, schlank sein als Schönheitsideal das andere. Das Körpergewicht zu reduzieren hat ein Suchtpotential, das wiederum eng mit Perfektionismus verknüpft ist. Stichwort "Anorexia nervosa", auch Magersucht genannt.

Raphael Bonelli zitiert in seinem Buch "Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird" eine 17-jährige Anorexie-Patientin, die ihm im Rahmen einer Therapie eine E-mail schrieb.

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, die Kontrolle über mein Essen und Abnehmen zu verlieren. Die Vorstellung, mich nicht mehr abends wiegen zu dürfen, macht mich wahnsinnig. Selbst wenn ich weiß, dass es ein schlechter Tag war, das heißt, dass ich zu viel gegessen habe und dass der Blick auf die Waage mich in tiefe Verzweiflung stürzen wird: Ich muss wissen, wie viel Selbstbewusstsein mir zusteht, wie sehr ich mich verachten muss. Ich muss den Grad meiner Schwäche oder Stärke regelmäßig kontrollieren können. Wer bin ich, wenn ich mich nicht mehr im Griff habe?«

Die letzten drei Sätze bezeichnet Bonelli als Perfektionismus in Reinkultur. Diese Selbstzerfleischung, wenn man etwas nicht erreicht hat, was man unbedingt erreichen musste.

Die 5 Gebote des Perfektionismus

Die Leitsätze des Perfektionismus lauten folgendermassen:

  1. Ich muss leisten
  2. Ich muss tadellos sein
  3. Ich muss herausragen
  4. Ich muss makellos sein
  5. Ich muss bewundernswertes vollbringen

Zusammengefasst haben diese unumstösslichen Dogmen zum Ziel, dass der Perfektionist etwas vor sich hinstellen kann, damit er von anderen wertgeschätzt wird. Dass das auf die Dauer nicht funktionieren kann, ist unschwer zu erkennen. Ein ständiger innerer Stress ist die Folge. Doch auf diesen inneren Stress sind die Perfektionisten oft gerade Stolz, weil sie von sich denken, dass sie eben härter an sich arbeiten, als alle andere um sie herum.

Die Folge davon ist nicht selten das sogenannte Burn-out, das aber schon fast als Adelung gehandelt wird, weil es fälschlicherweise für einen selbstlosen Aufopferungswillen gehalten wird. Doch Burn-out ist die klassische Folge von Perfektionismus, erklärt Bonelli. Das Problem liegt nicht bei der Firma oder beim Chef, der dem Angestellten zu viel Arbeit aufhalst, sondern beim Perfektionisten selbst, mit seinem in Granit gemeisselten Perfektionsdogmen. Diese Dogmen sind ihm oft gar nicht bewusst und wenn doch, dann ist er nicht selten stolz darauf. Man kann aber niemandem helfen, sich von einer Denk- und Verhaltensweise zu verabschieden, auf die er stolz ist.

Perfektionismus ist ein Denkfehler, der langsam zu einem Lebensgefühl wird, mit einem zunehmenden inneren Druck zu leisten, bei gleichzeitig abnehmender Lebenszufriedenheit.

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Ruhe finden für die Seele

Der Perfektionist hängt an sich selbst fest. Er versteht nicht, dass seine Bestimmung als Mensch darin liegt, einer Sache zu dienen, die höher ist als er selbst. Die Erlösung seiner zwanghaften Ichhaftigkeit kann er aber nur in der Ablösung von sich selbst finden. Jesus ist gekommen, um zu lösen was gebunden ist. Jesus bringt nicht nur die Lösung, er bewirkt nicht nur die Lösung durch seinen stellvertretenden Tod am Kreuz und die Auferstehung vom Grab. Nein, Jesus ist die Lösung! Jesus lädt uns dazu ein, unser Leben loszulassen und es ihm zu schenken. Für ihn zu leben und das Leben in der Fülle bei ihm zu finden.

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es ein einzelnes Korn. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. Wem sein eigenes Leben über alles geht, der verliert es. Wer aber in dieser Welt sein Leben loslässt, der wird es für das ewige Leben in Sicherheit bringen. Johannes 12,24-25

Nur indem ich mich selbst loslasse und mich ganz in die Hand Gottes fallen lasse, kann sich mein Leben multiplizieren und im höchst möglichen Mass entfalten und verwirklichen. Dieses Wort von Jesus klang in meinen Ohren aber lange Zeit hart und unbarmherzig, so nach dem Motto: "Friss oder stirb! Du hast gar keine andere Wahl". Es wurmte mich, dass Jesus keine Grauzone offenlässt oder wenigstens einen Spielraum, damit ich es auf meine Art versuchen kann. Aber nein, in seiner Aussage gibt es nur entweder oder. Radikal im wahrsten Sinne des Wortes. Jesus geht an die Wurzel des menschlichen Seins. Er bezieht sich auf die Schöpfungsordnung. Ich bin erschaffen zur Gemeinschaft mit Gott.

Doch Jesus tadelt nicht. Er stellt mich in erster Linie vor die nackte Realität meiner kurzen, irdischen Existenz. Er hat die Möglichkeit erschaffen, dass ich das Leben finden kann! Ich finde es aber nicht bei mir selbst. Nicht im ängstlichen Kreisen um meine Bedürftigkeit. Jesus sagt:

Du kannst dich weiterhin um dich selbst drehen, ich halte dich nicht davon ab. Doch ich lade dich ein, deinen Blick von dir selbst zu lösen. Schau nicht irgendwo hin. Schau auf mich. Lerne mich kennen, ich habe gute Gedanken über dich. Ich verspreche dir, ich gebe dir das Leben im Überfluss. Und ich schenke dir nicht irgendein Leben, nein, ich schenke dir das Kostbarste was ich habe: mein eigenes Leben. Ich bin bereit, mein eigenes Leben zu verlieren, um es dir zu schenken.

Das Angebot von Jesus klingt irgendwie fast zu gut um wahr zu sein. Doch je länger ich lebe, desto mehr erkenne ich die Sinnlosigkeit meiner ängstlichen Ichhaftigkeit. Dass Jesus mir seine Hand hinhält und mich einlädt, nah bei ihm zu leben und von ihm zu lernen, das wird mir zunehmend zum kostbarsten und allerhöchsten Gut in meinem kurzen, unscheinbaren Leben auf Erden.

Jesus spricht: »Kommt zu mir, ihr alle, die ihr euch plagt und von eurer Last fast erdrückt werdet; ich werde sie euch abnehmen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn das Joch, das ich auferlege, drückt nicht, und die Last, die ich zu tragen gebe, ist leicht.« Matthäus 11,28-30


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