Identität (Teil 4)

Emanuel Hunziker Emanuel Hunziker

Was genau läuft schief mit der Welt und uns Menschen? Was müssen wir tun, damit es wieder gut läuft? Jede Kultur muss diese Fragen beantworten.

Um die Mechanismen der verschiedenen Identitätsbildungsprozessen besser zu verstehen, müssen wir uns etwas eingehender mit dem Sinn und Zweck einer Kultur befassen. Wir folgen dabei weiterhin den Lehreinheiten von Tim Keller, die er an der Gospel Identity Conference 2017 in New York präsentierte.

Was ist Kultur?

Das lateinische Wort cultura kann mit Bearbeitung, Ackerbau, Pflege übersetzt werden. Kultur ist demnach alles, was der Mensch selbst schafft im Gegensatz zur nicht vom Menschen geformten Natur. Das Wort cultura wurde bereits in der Antike, neben dem eigentlichen Wortsinn, auch für die Pflege des Geistes und der Persönlichkeit verwendet.

Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schliesst nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen. (Kulturdefinition UNESCO)

Laut Immanuel Kant wohnt dem Begriff ein moralischer Aspekt inne. Kultur kann somit nicht nur be-schreibend verwendet werden, sondern vor-schreibend. Eine Kultur beschreibt nicht nur, was ist, sondern gibt auch vor, was sein soll. Kultur konstruiert innerhalb einer Gesellschaft eine Identität, die mündlich und schriftlich tradiert wird. Kultur kann somit als Referenzsystem innerhalb einer Gesellschaft bezeichnet werden und dient gleichsam der Schaffung einer kollektiven Identität sowie der Abgrenzung des Kollektivs nach außen.

Jede Kultur erzählt ihre Geschichte

Alle Menschen stellen unabhängig von Rasse, Sprache, Religion und Region früher oder später fest, dass mit der Welt etwas nicht stimmt und müssen folgende Fragen beantworten:

  • Was genau läuft schief mit der Welt und uns Menschen?
  • Was müssen wir tun, damit es wieder gut läuft?

Mit anderen Worten: Was ist krank und wie wird es wieder gesund? Was könnte unser Leben nicht nur besser machen, sondern zurück führen zu einer ganzheitlichen und integeren Ordnung?

Dabei müssen protagonistische und antagonistische Kräfte definiert werden. Protagonistische Kräfte verbessern das Leben, wenn ihnen Wirkungsraum gegeben wird. Antagonistische Kräfte verschlechtern das Leben, wenn sie Überhand nehmen. Jede Kultur definiert diese Kräfte und motiviert und belohnt jeden, der sich mit den protagonistischen Kräften verbindet und damit seinen Beitrag zu einem besseren Leben leistet. Wer sich hingegen mit antagonistischen Kräften vereint, wird verachtet und bestraft. Es geht also um eine heilige Ordnung.

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Photo by Cory Bouthillette / Unsplash

Eine heilige Ordnung?

Alle grossen Religionen haben ihre eigene heilige Ordnung. Sie sagen, dass die Welt besser wird, wenn du dich ihrer Ordnung anpasst, anstatt selbstzentriert zu leben und autonom zu entscheiden, wie es für dich stimmt. Die Selbstzentriertheit des einzelnen Menschen wird als antagonistische Kraft definiert, während die heilige Ordnung die protagonistischen Kräfte freisetzt und fördert.

Auch wenn sich die Religionen in ihrer Auffassung unterscheiden, WAS diese heilige Ordnung sein soll und WIE man sich mit dieser heiligen Ordnung in Verbindung bringt, teilen sie alle die Auffassung, dass es so eine übergeordnete Ordnung gibt. Wenn ich z.B. als Christ mit einem Moslem spreche, wird er mir sagen: Deine Ordnung ist falsch. Aber wir teilen immer noch die Auffassung, dass es eine heilige Ordnung und einen Gott gibt und wir in Verbindung damit leben müssen, um ein guter Mensch zu sein.

Wenn ich als Christ mit jemandem spreche, der eine moderne Identität hat, wird er sagen: Du bist bösartig! Warum? Weil die moderne Identität sagt: Die Welt kommt erst dann in Ordnung, wenn jeder das Recht hat für sich zu entscheiden, was richtig und falsch für ihn bedeutet und wenn jeder die Freiheit hat in jeder erdenklichen Art und Weise zu leben, solange sie niemand anderen dadurch etwas Böses antun. Das Problem – das, was wirklich schief läuft mit der Welt – ist die Tatsache, dass irgendjemand mich dazu zwingen will, mich einer heiligen Ordnung zu unterordnen! Für eine moderne Identität besteht das Hauptproblem des Lebens in der Idee einer heiligen Ordnung, die für alle verbindlich sein soll.

  • Traditionelle Kulturen sagen: Das, wovon du gerettet und erlöst werden musst, ist deine Selbstzentriertheit und dein Egoismus.
  • Die moderne Kultur sagt: Du musst von der Idee erlöst werden, dass du Erlösung brauchst. Du musst von der Idee befreit werden, dass du Rettung brauchst.

Das Leid der Welt kann laut der modernen Kultur nur gelindert werden, wenn wir die Idee einer heiligen Ordnung begraben. Ganz a là John Lennon: Imagine, there is no religion.

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Photo by Cory Bouthillette / Unsplash

Beispiele

Im Westen haben wir keine Geschichten mehr übrig, als die, in denen sich ein Individuum von seiner traditionellen Identität löst und eine moderne Identität annimmt.

Beispiel 1: Ein Ferkel emanzipiert sich

Ein lustiges Beispiel ist der Film «Babe», in dem sich ein Ferkel sehnlichst wünscht, ein Schäferhund zu sein. Alle Tiere des Hofes versuchen ihm diesen Wunsch auszureden und es auf seinen Platz als Schwein in der Gemeinschaft der Tiere zu verweisen. Doch das Schweinchen lässt sich nicht von seinem Traum abbringen. Die Geschichte endet damit, dass das Schwein dem Landwirt als Schäferhund dient und mit ihm einen Wettbewerb gewinnt.

Beispiel 2: Kinderpuppen

In traditionellen Kulturen sind Puppen dazu da, einem Mädchen schon in jungen Jahren beizubringen, wie ihr Leben als erwachsene Frau einmal aussehen wird. Die Puppe gibt dem Mädchen eine Einführung in ihre traditionelle Identität. Kinder gross ziehen ist harte Arbeit und mit vielen Opfern verbunden.

Puppen dienen in der modernen Kultur einem ganz anderen Zweck. Heute liest man im Katalog für Puppen Dinge wie:

  • Diese Puppen zeigen dem Mädchen, dass ihre Individualität etwas ist, das man jeden Tag feiern soll! Jedes kleine Mädchen hat ihre eigene Geschichte: All das, was sie einzigartig macht und von jedem anderen Mädchen unterscheidet. Diese Puppen geben ihr die Möglichkeit zu zeigen, wer sie ist. Wie wird sie der Welt wohl ihren einzigartigen, inneren Glanz präsentieren?

Das ist das komplette Gegenteil der traditionellen Puppengeschichte. Und wohlbemerkt, man kann einem Kind kaum einen grösseren Druck aufsetzen, als ihm ständig zu sagen: "Du bist absolut einzigartig. Du hast etwas, das sonst niemand auf der ganzen Welt hat. Du kannst werden, was immer du willst!" Keine Kultur hat jemals einen so grossen Druck auf ihre Kinder ausgeübt.

Beispiel 3: Psychotherapie

In der Psychotherapie wird die moderne Identitätsbildung in dem Sinne vermittelt, dass Therapeuten ihren Klienten helfen wollen, indem sie sagen: «Lassen sie niemals zu, dass jemand anderes sie definiert. Ihr Selbstwert sollte nicht auf dem basieren, was andere über sie sagen. Sie entscheiden selbst, was für sie stimmt und was nicht. Definieren sie sich selber. Niemand sonst darf sie definieren.»

Die Ironie des Ganzen besteht darin, dass der Therapeut mit seinem Klienten genau das tut, was angeblich niemand mit ihm tun soll. Er zwingt sich dem Klienten auf und drückt ihm sein total westliches und hoch-individualistisches Verständnis von Identität auf.


Fortsetzung:

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