/ Weihnachten

Raum für das Staunen

Josua Hunziker Josua Hunziker

So kurz vor Weihnachten, voll im Stress? Wo bliebt da Raum und Zeit für das Staunen? Und was geschah damals in Bethlehem?

Liebestoll

Gedanken eines Engels an der Krippe von Bethlehem


Nun liegst Du hier – ein kleines Wesen.
Hilflos, zerbrechlich. Abhängig, arm.
Dabei ist mir, als sei es erst gestern gewesen
als auf deinem Thron ich dich letztmals sah.

Seit Ewigkeit sang ich als Teil deiner Chöre.
Ich pries deine Grösse, deine Weisheit und
Macht. Wer hätte geahnt, dass der Thron
dich verlöre? Dass Ehre du aufgibst um zu
kommen heut Nacht?

Doch als Gabriel ging deine Geburt zu
verkünden erhobst du dich. Und nichts mehr
im Himmel rührte sich.
Mucksmäuschenstill, alles gespannt.
Als Maria sprach, erhobst du deine Hand
und lauschtest. Und hofftest.

«Nach deinem Wort soll mir geschehen.» -
noch während sie sprach war auf deinem
Gesicht ein Zucken zu sehen. Reglos,
atemlos, bliebst du steh’n.

Doch dann schrittst du los, verliessest den
Thron. Wir alle starrten gebannt auf den
Sohn. Du legtest ab deine Krone, das Zepter
dazu. Streiftest ab dein Gewand. Du zogst
aus deine Schuh’. Dein Glanz war verblasst,
du lässt ihn zurück. Dein Vater und du
wechseln noch einen Blick und dann –
gehst du einfach. Gehst durch die Reihen.
Wortlos. Langsam. Doch fest.
Alle Blicke auf dich, als du den Thronsaal
verlässt.

Und nun liegst Du hier – ich erkenn’ dich
nicht wieder. Dort auf dem Feld singt der
Engelschor Lieder. Dort sollt’ ich dabei sein,
doch ich kann mich nicht lösen. Was bringt
dich dazu, die Welt so zu erlösen?

Du, der Versorger der Himmel, nun
schreiend vor Hunger. Nie hattest du
Mangel bis jetzt. Der Held aller Zeiten
aufgeschreckt aus dem Schlummer. Sohn
armer Eltern, gezeichnet von Kummer. Dein
mächtiges Wort ertönte klar und voll Kraft –
nun kannst du nur noch schreien bis deine
Stimme erschlafft. Wie scharf war dein
Denken, wie brillant dein Verstand. Du, der
du alles durchblicktest siehst jetzt kaum
mehr deine Hand – verschwommene
Lichter, deiner Eltern Gesichter sind alles
was du noch erkennst. Der König des Feuers,
er zittert und friert – wie konntest, Gott, du
so werden? So winzig? So klein? Limitiert?

Dem Menschen ein Mensch. Dem Kinde ein
Kind. Dem Armen ein Armer. Auf dass man
dich find’. Auf dass man dich greife; man soll
dich hören und seh’n. Dieser Plan ist
unfassbar – wer soll ihn versteh’n?

Vielleicht wär’s anders gegangen. Bestimmt.
Doch du hast dich auf dein Geschöpf ganz
besinnt. Liebestoll, grossherzig und völlig
verrückt hast Du den unmöglichsten Weg für
die Erlösung gezückt. Den Weg ganz zum
Menschen, unübertreffbar weit entgegen.
Als sei Dir die Menschheit wirklich am
Herzen gelegen.

Und wenn Pläne aufgehen, so verwegen sie
scheinen, so waren es doch noch immer die
Deinen. Versteh’n kann ich’s nicht – mir
bleibt nur das Staunen. Und mein Erstaunen
hinauszuposaunen. Und so stimm’ ich ein,
sing’s zu Hirten und Herden: «Ehre sei Gott,
und Frieden auf Erden.»

Josua Hunziker, im Dezember 2022


Raum für das Staunen
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