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Identität (Teil 1)

Emanuel Hunziker Emanuel Hunziker

Wer oder was bin ich? Wieviel zählt das, was ich bin? Wer bestimmt, ob und wieviel Wert ich habe? Und wer anerkennt meinen Wert?

Auf der Suche nach Identität

Identität. Ein vielschichtiges Thema, das mich seit meiner Kindheit bewegt. Damals wusste ich mit dem Wort nichts anzufangen, ausser der Tatsache, dass ich eine Identitätskarte besitze, die bestätigt, dass ich ein Schweizer bin. Ganz intuitiv suchte ich nach Bestätigung und Annahme, wie alle anderen auch. Als Teenager kamen eine innere Leere und Unsicherheit über mich. Eine melancholische Traurigkeit, Minderwert und Selbstzweifel zerfrassen mich innerlich und raubten mir die Freude am Leben. Was half, waren ehrliche Freundschaften.

Freundschaften entstehen in dem Moment, indem eine Person zur anderen sagt: Was! Du auch? Ich dachte ich sei der Einzige... (C.S. Lewis)

2002 fiel ich in eine Erschöpfungsdepression, nachdem ich mich jahrelang durchkämpfte. Eine demütigende und gleichzeitig befreiende Erfahrung. Endlich nahm ich professionelle Hilfe in Anspruch, sowie für ein halbes Jahr die Krücke eines Antidepressiva um einigermassen zu funktionieren. In den Gesprächen mit einer Fachperson machte ich mir zum ersten Mal grundlegend Gedanken darüber, wer ich bin.

Wie bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin? Wer und was hat mich geprägt. Mag ich den Menschen, zu dem ich wurde? Wie gehe ich mit mir selber um?

Ich kam relativ schnell wieder auf die Beine, fing an mein Leben bewusster zu führen. Die Frage danach, wer ich bin, blieb weiterhin ein zentrales Lebensthema. Mit dem erstmaligen Vater-werden im Jahr 2010 stellte sich die Frage grundlegend neu:

Wie entsteht Identität? Wie präge ich die Identität meiner Kinder? Wie stärke ich ein gesundes Selbstbewusstsein? Was nützt? Was schadet?

Im November 2017, kurz nachdem unsere Tochter Grace nach einer Hochrisikoschwangerschaft zur Welt kam, lehrte Tim Keller in New York an der Gospel Identity Conference über das Thema Identitätsbildung. Die Video- und Audioaufnahmen dieser Konferenz hörte ich danach unzählige Male an. Viele Fragen, die ich seit Jahren in mir trug, wurden beantwortet. Unsichtbare Prozesse und Mechanismen wurden für mich greifbar und erklärbar.

Letzten Sommer schlitterte ich erneut in einer Erschöpfungsdepression. Die Symptome kamen mir bekannt vor. Die Herausforderungen der vergangenen Jahre als Pastor, die belastende Familiensituation mit unserem behinderten Sohn und mein Umgang mit all dem brachten das Fass erneut zum überlaufen. Ich nahm Hilfe in Anspruch und startete eine neunmonatige Therapie bei einem verständnisvollen Psychiater. Die grundlegende Frage war auch da wieder:

Wer bin ich? Was gibt meinem Leben Wert und Sinn? Anerkenne ich meinen eigenen Wert? Wenn ja, was bedeutet das für meinen Umgang mit meinen Energie-Ressourcen? Wie setze ich die Prioritäten richtig?

Das Ringen mit diesen Fragen hat mich dazu bewogen, die Thematik in einer Blog-Serie zu verarbeiten. Tim Kellers Lehreinheiten dienen mir als essentielle Grundlagen dazu.

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Das aufgezwungene Drehbuch unserer Kultur

Wie entsteht Identität? Dieser Frage möchte ich auf den Grund gehen. Dabei ist folgendes ganz entscheidend wichtig zu verstehen: Unsere Kultur zwingt uns ungefragt einen Identitätsbildungsprozess auf, ohne diesen so zu nennen oder als solchen zu deklarieren. Wir werden nicht gefragt, ob wir das auch wollen. Es geschieht einfach mit uns, meist unbewusst. Damit dieser Prozess erkenn- und verstehbar wird, müssen wir ihn zuerst sichtbar machen.

Vor 500 Jahren benutzte in Europa niemand das Wort Identität. Auch sprach keiner über die Suche nach sich selbst. Die Menschen lebten einfach gemäss dem Drehbuch ihrer damaligen Kultur. Heute sind wir überzeugt davon, dass wir zu uns selbst finden können, indem wir ganz unabhängig von unserer Umwelt entscheiden, wer wir sind oder sein wollen. Doch in Wahrheit halten auch wir uns an das vorgegebene Skript unserer westlichen Kultur, die uns ihren Identitätsbildungsprozess ungefragt aufzwingt.

Der Grund, warum insbesondere Menschen, die an den Gott der Bibel glauben, diesen Prozess verstehen müssen, ist ihr Verlangen, Christus immer ähnlicher zu werden. Denn ob wir es wollen oder nicht: Mit uns allen passiert auf die eine oder andere Art und Weise folgendes: Mit unserer linken Hand halten wir entschlossen am christlichen Glauben fest, während wir gleichzeitig mit unserer rechten Hand der vorherrschenden Kultur des Westens erlauben, unsere Identität zu formen.

Anders ausgedrückt: Wir geben der Botschaft von Jesus zwar Raum in unserem Kopf und denken, dass dieses Kopfwissen automatisch auch unser Herz prägt. Doch in Wahrheit wird unserem Herz ungefragt die Identität unserer westlichen Kultur aufgezwungen.

Christus ähnlich?

Die Gestaltung einer Identität im Sinne von Jesus Christus beinhaltet zwingend, dass wir seiner Botschaft bewusst und entschlossen erlauben, den unsichtbaren Identitätsformungsprozess unserer westlichen Kultur zu entlarven, kurzzuschliessen und zu stoppen. (Tim Keller)

Christus ähnlich werden bedeutet, dass wir uns proaktiv aus dem dominanten Identitätsbildungsprozess unserer Kultur herausnehmen und unser Denken vertrauensvoll Gott hinhalten, damit er es erneuern möge (Römer 12,2). Aus einem erneuerten Denken entstehen neue Prioritäten, Gewohnheiten und Verhaltensmuster. Paulus schreibt im Epheserbrief:

Ihr sollt euer altes Leben wie alte Kleider ablegen. Folgt nicht mehr euren Leidenschaften, die euch in die Irre führen und euch zerstören. Lasst euch in eurem Denken verändern und euch innerlich ganz neu ausrichten. Zieht das neue Leben an, wie ihr neue Kleider anzieht. Ihr seid nun zu neuen Menschen geworden, die Gott selbst nach seinem Bild geschaffen hat. Jeder soll erkennen, dass ihr jetzt zu Gott gehört und so lebt, wie es ihm gefällt. (Epheser 4,22-24)

Wohlgemerkt: Paulus schreibt hier an Christen! Christus ähnlich werden erfordert die Erkenntnis, dass der Sog der Identitätsbildung unserer Kultur konstant auf uns einwirkt. Mit diesem Sog ist das Volk Gottes seit jeher konfrontiert, bis heute.

Wiedergeboren aus einem unvergänglichen Samen (1.Petrus 1,23) sind wir zwar nicht von dieser Welt, aber in die Welt gesandt (Joh 17,15-17). Gottes Strategie uns vor der Prägung der vorherrschenden Kultur zu bewahren, besteht in der Läuterung durch die Wahrheit. Diese ist entscheidend für die Formierung einer Identität, die nicht der dominanten Kultur, sondern Christus ähnlich ist.

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Was ist eine Identität?

An der Gospel-Identity Conference der Redeemer Presbyterian Church in New York Ende 2017, umschrieb Timothy Keller den Identitäts-Begriff folgendermassen:

Identität ist

  • ein Selbstbewusstsein (Bin ich jemand? Wenn ja, wer?)
  • ein Selbstwertgefühl (Wieviel zählt das, was ich bin?)
  • ein höchstes Gut (Was ist der Sinn meines Lebens?)
  • die Quelle deines Selbstwerts (Wer bestimmt meinen Wert?)
  • die Quelle deiner Anerkennung (Wer anerkennt meinen Wert?)

Identisch

Anders gefragt: Was ist identisch in deinem Leben? Du hast verschieden Rollen. In Deiner Familie, bei der Arbeit, in der Nachbarschaft. Du trägst verschiedene «Hüte» wie man sagt. Doch wer bist du wirklich? Mit was bist du so sehr verbunden und vertraust so fundamental darauf, dass es in jeder deiner Rollen mit dabei ist? Das, was identisch ist in jeder deiner Rollen, ist deine Identität – weil es eben identisch ist.

Dein höchstes Gut

Auf was verlässt du dich am meisten? Für was lebst du am fundamentalsten? Jeder Mensch hat ein höchstes Gut. Dein höchstes Gut ist das, worauf du dich am meisten verlässt, worauf du am meisten vertraust und für was du schlussendlich lebst. Dein Traum. Dein Ziel. Dein Feuer. Was immer es ist – es ist deine Identität. Es ist so fundamental für alles was du tust, dass es im Kern jeder deiner Rollen vorhanden ist. Es ist identisch in allen deinen Beziehungen.

Selbstwert und Anerkennung

Was ist die Quelle deines Selbstwertes und deiner Anerkennung? Dabei geht es darum, WIE du dein höchstes Gut, deinen Lebenssinn umsetzt und realisierst. Wenn du sagst: "Es ist der Sinn meines Lebens als freier Mensch zu leben", dann ist das schön und gut. Die entscheidende Frage dabei ist: Wer darf überprüfen, ob du deinem Lebenssinn auch wirklich nachgehst? Wer bestätigt, dass du aktiv nach deinem höchsten Gut – ein freier Mensch sein – strebst und es auch erreichst?

Sicherheit und Bedeutsamkeit

Eine weitere Beschreibung lautet: Deine Identität ist das, zu dem du aufschaust, wenn es um Deine Sicherheit und Bedeutsamkeit geht.

  • Deine Sicherheit liegt in dem, auf was du am meisten vertraust.
  • Deine Bedeutsamkeit ergibt sich aus deinem Selbstbewusstsein und deinem Selbstwertgefühl.

Beispiel: Du kannst Karriere machen. Wenn Karriere machen dir Sinn im Leben gibt und wenn dein Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl darauf basiert, dass du erfolgreich darin bist, dann arbeitest du nicht nur, sondern deine Karriere ist deine Identität!

Identität ist all das, von dem du deine Sicherheit und deine Bedeutsamkeit erwartest. So funktioniert jede Identität.

Wer validiert dich?

Validieren bedeutet: die Wichtigkeit, die Gültigkeit, den Wert von etwas feststellen, bestimmen.

  • Wer darf überprüfen, ob dein Leben bedeutungsvoll und wertvoll ist?
  • Wer darf überprüfen, ob du eine gute oder schlechte Person bist?

Fortsetzung:

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