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Identität (Teil 3)

Emanuel Hunziker Emanuel Hunziker

Die uneingeschränkte Selbstbestimmung ist eine Reaktion auf die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Die neue Freiheit hat aber auch ihre Schattenseiten.

Antwort auf totalitäre Regime

Das sich Losreissen aus engen, traditionell vorgegebenen Rollenbildern wird heutzutage als einziger Weg zur Freiheit beschrieben. Das ist nicht zuletzt auch eine nachvollziehbare Reaktion auf das grausame Blutvergiessen der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Ihr Ziel war die umfassende Durchsetzung eines neuen Wertesystems. Sie beanspruchten einen uneingeschränkten Verfügungsanspruch über die Beherrschten, um in alle sozialen Verhältnisse hineinzuwirken, oft verbunden mit dem Anspruch, einen „neuen Menschen“ gemäss einer bestimmten Ideologie zu formen. Dahin wollen wir nie mehr zurück, niemals!

Doch die Vernichtung jeglicher absoluten Werte haben zu einem neuen gesellschaftlichen Zwang geführt: Der Zwang zur Selbstdefinierung. Dieser Zwang wirft düstere Schatten auf die angestrebte Freiheit. Die moderne Identität hat alte Probleme gelöst, aber gleichzeitig neue Probleme geschaffen. Darüber müssen wir reden.

Die Probleme der modernen Identität

Tim Keller nannte an der Gospel Identity Conference sechs Gründe, warum die moderne Identität problematisch ist.

1. Die moderne Identität ist widersprüchlich

Warum? Weil sie auf deinen eigenen Gefühlen basiert. Wenn du deine Identität auf deine tiefsten Gefühle baust, wird es sehr widersprüchlich werden. Gefühle ändern sich und sind manipulierbar. So wirst du nie ganz sicher sein, was du wirklich willst.

Beispiel 1
Du wünschst dir einen super schlanken oder athletischen Körper und hast gleichzeitig ein tiefes inneres Verlangen, jeden Abend auf dem Sofa zu sitzen und eine Tafel Schokolade zu verspeisen. Beides sind echte und intensive Gefühle, die sich komplett widersprechen.

Beispiel 2
Du möchtest die Welt bereisen und bist gleichzeitig in eine Person verliebt. Was machst du jetzt? Du musst entscheiden was zu tun ist und zwei Jahre später findest du womöglich heraus: Oje, ich hatte falsch entschieden...

2. Die moderne Identität ist fragil

Die moderne Identität ist die fragilste, zerbrechlichste Identität in der Menschheitsgeschichte. Warum? Weil Menschen irreduzibel soziale Wesen sind. Niemand kann sich selber bestätigen, sich selbst segnen oder sich selbst einen grossen Namen geben. Du kannst dir selbst keine Identität erschaffen durch einen inneren Monolog. Identität kann nur in einer Beziehung mit einem Du ausgehandelt werden, durch den Dialog mit anderen. Darum brauchst du jemanden ausserhalb von dir, der dir sagt wer du bist.

Der Mensch wird am Du zum Ich. (Martin Buber)

Wenn du in einer traditionellen Identität ein guter Sohn sein willst und deine Eltern sagen: Du bist ein guter Sohn – dann bist du ein guter Sohn. Warum? Weil deine Eltern die entscheidenden Leute sind, um das zu beurteilen. Schränkt das deine Freiheit ein? Ja. Du stehst unter dem Urteil deiner Eltern und kannst nicht einfach tun und lassen was du willst, wenn du ein guter Sohn sein willst. Das Entscheidende ist aber: Das Urteil deiner Eltern lässt alle anderen Stimmen verstummen die etwas anderes sagen, auch die Stimme deines eigenen Herzens. Wenn dein Vater sagt, du bist grossartig, dann bist du es.

Mit einer modernen Identität gestehst du aber weder deinen Eltern noch einer Gemeinschaft dieses Recht zu, nur dir selbst Gleichzeitig wirst du deinen Mitmenschen – auf die eine oder andere Weise – unmissverständlich zu verstehen geben: Ich brauche Bestätigung! Endlose Bestätigung. Und du wirst nie zur Ruhe kommen. Folglich verunmöglicht eine moderne Identität eine sachliche Diskussion. Denn wenn du nicht mit mir einverstanden bist, ist das gleichbedeutend mit Ablehnung. Es bedeutet, dass du mich nicht mehr anerkennst, für wer ich bin oder wen ich sein will. Anderer Meinung sein bedeutet, dass du mich als Person attackierst und meine Identität untergräbst.

Die moderne Identität macht uns zum Traum jeder Marketingabteilung. Vor 60 Jahren hat man Dinge verkauft, weil sie nützlich waren. Heute verkauft man kein Produkt, weil es nützlich ist, sondern man sagst: «Intelligente Leute kaufen diese Produkte», «hippe Leute», «glamouröse Leute kaufen dieses Produkt». Mit anderen Worten: «Wir helfen dir, dich selbst zu vermarkten mit diesem Produkt». Du verhältst dich wie eine Ente die aufs Futter wartet und nimmt was man ihr zuwirft, weil du tief in dir drin danach sehnst, dass anerkannt und bestätigt zu werden. Diese Bestätigung geben dir die mächtigen Konzerne dieser Welt liebend gerne und ziehen dir dabei das Geld aus der Tasche.

Das Gute ist für dich nicht etwas, wofür es sich zu opfern lohnt. Das Gute ist diese Person, die du in deinem Inneren bestimmt hast, dass du sie sein willst – und das macht dich sehr manipulierbar und fragil.

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Photo by Annie Spratt / Unsplash

3. Die moderne Identität ist erdrückend

In der traditionellen Identität ging es darum hineinzupassen. Die moderne Identität geht es darum, herauszuragen. Du musst brillant sein. Du musst schön sein. Du musst deinen einzigartigen Glanz scheinen lassen! Niemand kann dir das von aussen sagen. Du musst es selber herausfinden. Damit übst du gewaltigen Druck auf dich selbst aus.

4. Die moderne Identität ist fragmentierend

Ehen, Familien, Dorfgemeinschaften, Nachbarschaften, Regierungen zerfallen, weil sich niemand mehr etwas Höherem unterordnen will. Moderne Identitäten sind individualistisch. Das bedeutet, jede Beziehung, sei es Eltern, Ehe, Freunde oder auch die eigenen Kinder – wenn sie dich nicht erfüllen und dir helfen deine Identität zu erlangen, dann verlässt du sie. Das verunmöglicht verbindliche Beziehungen. Du wirst niemals dein Glück und deine Begierden für das gemeinsame Wohl opfern. Warum? Weil die moderne Identität darauf basiert, das NICHT zu tun. Dein individuelles Glück kommt zuerst. Du musst dir alle Optionen offenhalten. Fragmentierung ist die logische Folge.

5. Die moderne Identität ist exklusiv

Jede Identität, die du dir erkämpfen musst ist rivalisierend. Wenn deine Identität darin besteht, eine hart arbeitende Person zu sein, dann stärkst dein fragiles Ego indem du sagst: Ich fühle mich als guter Mensch, weil ich hart arbeite. Du wirst folglich auf die herabschauen, die du als faule Leute bewertest. Du definierst dich also durch sie, indem du dich über andere erhebst und sie dämonisierst. «Ich bin grossartig, weil ich nicht so bin wie die anderen.» Das ist ein entscheidender Teil der modernen Identität.

6. Die moderne Identität ist eine Illusion

Die Gesellschaft sagt dir zwar, dass du dich selbst definieren sollst und du denkst du tust es, aber das stimmt nicht. Die moderne Identität ist eine Illusion, weil du zwar angibst, dass du dich von niemand anderem definieren lässt, aber eigentlich tust du es doch und bist nicht bereit, es dir einzugestehen.

  • Beispiel 1: Wenn du vor 200 Jahren als Frau vor der Wahl gestanden hättest, dich zwischen Karriere und Liebe zu entscheiden, dann hättest du höchstwahrscheinlich die Ehe gewählt, weil das dem Skript der damaligen Gesellschaft entsprach.
  • Heute würdest du wohl eine Karriere vorziehen, weil dir heute die Gesellschaft sagt: "Mach Karriere, opfere deine Chancen nicht für einen Mann!" In beiden Fällen: Hast DU dich entschieden? Bist DU in dich gegangen und hast es ganz für dich allein entschieden? Nein, es ist deine Kultur in der du lebst, die dir diese Normen aufdrückt. Du tust exakt was deine Kultur von dir verlangt.

Eine glückliche Mutter ist heute eine Provokation. Früher legten wir Karrieren auf Eis, um Kinder zu bekommen. Heute sollen wir unsere Eizellen auf Eis legen, um Karriere zu machen und unsere besten Jahre der Firma statt unseren Familien zu schenken. (Birgit Kelle)

  • Beispiel 2: Wenn vor 1000 Jahren ein Angelsachse in sein Herz sah und Aggression feststellte, dann dachte er: "Gut so, ich bin ein Angel-Sachse. Ich bin ein Krieger!" Er hätte niemals in sein Herz geschaut und gedacht: "Ich habe bestimmte sexuelle Gefühle, ich glaube das ist meine Identität."
  • Wenn heute ein Mann durch London läuft und Aggressionen in sich wahrnimmt, dann denkt er: "Ich brauche eine Therapie!" Aber wenn du sexuelles Empfinden in dir spürst, sagst du heute: "Das ist meine Identität, das bin ich!" Hast du wirklich in dein Herz geschaut und dann getan, was es dir sagt? Nein, du hast exakt das getan, was deine Kultur von dir verlangt. Es ist immer noch die moralische Instanz der vorherrschenden Kultur, die du von aussen in dein Herz hinein nimmst um zu bestimmen: Das bin ich und das bin ich nicht.

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Photo by Annie Spratt / Unsplash

Ungefragt

Unsere westliche Kultur fragt dich nicht, ob du ihre selbstbestimmte moderne Identität überhaupt willst. Sie geht viel radikaler vor: Jeder andere Identitätsbildungsprozess wird konsequent schlecht gemacht, ja sogar dämonisiert. Mit Erfolg. Wer sich gegen die selbstbestimmte Identität wehrt, ist des Teufels und wird als rückständig oder unterentwickelt hingestellt.

Wenn du dich aber trotz allem dafür entscheidest, dein Leben für eine grössere Sache hinzugeben oder zu opfern, dann tust du das als moderner Mensch nicht, weil das offensichtlich und für alle erkennbar das Richtige ist. Es gibt ja keine absolute Moral mehr. Nein, du tust es einzig und alleine darum, weil du es dir auswählst. Was die Sache grossartig macht, ist der Fact, dass du es selber wählst! Nur darum ist es eine grosse Sache.

Die Gesellschaft kommt nicht mit zehn Argumenten dafür und dagegen zu dir und sagt: «Du hast die Wahl zwischen einer traditionellen und einer modernen Identität. Welche willst du? Wir würden die moderne Identität empfehlen.» Nein, wir werden regelrecht ertränkt in unzähligen Geschichten, welche die moderne Identität als erstrebenswert vermitteln.

Die Eiskönigin

So ziemlich alle Geschichten, die in unserer modernen Kultur in Form von Büchern und Filmen erzählt werden, passen zur modernen Identität. Ein Beispiel ist das Lied «Lass jetzt los» aus dem Disney Film «Die Eiskönigin», in dem sich die Protagonistin aus ihrer traditionellen Rolle in eine moderne Identität befreit:

Der Wind, er heult so wie der Sturm ganz tief in mir
Mich zu kontrollieren, ich hab' es versucht
Lass sie nicht rein! Lass sie nicht sehen
Wer du bist Nein! Das darf niemals geschehen
Du darfst nichts fühlen, zeig ihnen nicht
Dein wahres Ich!

Ich lass los, lass jetzt los
Die Kraft sie ist grenzenlos

Es ist schon eigenartig, wie klein jetzt alles scheint
Und die Ängste die in mir waren,
Kommen nicht mehr an mich ran
Was ich wohl alles machen kann
Die Kraft in mir treibt mich voran
Was hinter mir liegt ist vorbei, endlich frei!


Fortsetzung:

Identität (Teil 3)
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