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Wenn mir die Worte fehlen

Joanna Hunziker-Merk Joanna Hunziker-Merk

Nein war das erste Wort unserer Tochter. Nicht Mami, nicht Papi, sondern NEIN. Ein gutes Wort! Wieso?

Eine total spannende Phase finde ich, mitzuerleben, wie unsere Tochter sprechen lernt! Spannender als Laufen lernen oder Essen lernen ist das Lernen, zu reden. Wieso? Weil ich selber gerne rede? Vielleicht, aber nicht nur!

Es ist Kommunikation, es ist Beziehung, es ist etwas vom anderen Erfahren, etwas Mitbekommen vom anderen. Da kommt Persönlichkeit zum Vorschein, Gedanken werden hörbar, Leben wird geteilt, Präferenzen erkennbar, wir lernen uns besser kennen.

Nun, das Sprechen lernen ist ein schwieriger Prozess und der dauert. Sprachunterricht in der Schule? Das ist Vokabeln büffeln, komplizierte Grammatik durchblicken versuchen, nichts verstehen und dann vielleicht einzelne Wörter erkennen, aber nicht sprechen können. Dann mal mutig Worte aussprechen, die dann doch anders tönen als beim Lehrer. Kommt dir das bekannt vor?


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In einer gesunden Entwicklung lernt das Kind zu sprechen, es spricht nach, was es hört und lernt, ohne sich dabei anstrengen zu müssen. Unsere Tochter ist da mitten drin und wenn sie für etwas kein Wort findet und es nicht so funktioniert, wie sie sich das gerade gedacht hat, dann schreit sie! Und dann wirft sie sich auch mal auf den Boden, immer öfters, im Moment. Ob Zuhause oder in der Migros, auf dem Balkon bei den Grosseltern, sie schreit sich durch's Leben, wenn etwas nicht klappt. Ihr erstes Wort: Nein. Sage ich mal nein, dann bricht es los, das Toben und Trotzen! Ich versuche es gelassen zu nehmen und weiss, es ist alles nur eine Phase. Trotzen ist wichtig für die Entwicklung, das steht in jedem Artikel. Wichtig und anstrengend.

Dass sie nein sagen kann, das macht den Alltag auch leichter, denn ich weiss, woran ich bin. Nur sagt sie manchmal zu allem nein und ich weiss dann doch nicht, was sie braucht oder möchte. Wir lernen gemeinsam. Und sie lernt neue Wörter und wir verstehen uns immer besser.


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Ich habe mich gefragt, ob wir verlernt haben, nein zu sagen und auch verlernt haben, mal zu schreien, um mit unseren Gefühlen besser klar zu kommen. Und ich meine nicht, das "sich anschreien", jemanden anschreien, sondern ein "Rauslassen der Emotionen". Sind wir so sozialisiert und angepasst, dass es nicht zu unserer Kultur gehört oder wenn, dann nur negativ behaftet ist? Ich finde es negativ, wenn mich jemand anschreit und ich erlebe es sehr negativ, wenn ich jemanden anschreie. Und doch passiert es. Leider. Aber Gefühle müssen raus.

König David hat zu Gott geschrien:

Mit lauter Stimme rufe ich zu Gott, ja, ich schreie zu ihm! Mit lauter Stimme rufe ich, damit er mir ein offenes Ohr schenkt. Psalm 77.2

Herr, mein Gott und Retter, Tag und Nacht komme ich vor dich und schreie zu dir. Ps 88.2

Da ist einer, der hört unseren Schrei! Einer, der kann damit umgehen, weil er uns durch und durch kennt.


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Ein bekanntes Sprichwort sagt:

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Naja, Schweigen kann auch Gift sein! Dieses Sprichwort meint, dass wir in Situationen besser schweigen, als Dinge zu sagen, die wir nicht mehr zurücknehmen können und verletzen. Dann ist Schweigen sicherlich goldwert. Nur, wie oft schweigen wir, wenn wir besser reden würden? Uns mitteilen? Mal rauslassen, was in uns drin ist, damit es uns nicht zerstört und zerfrisst?

Mein Mann und ich sind da sehr unterschiedlich. Ich bin schnell aufbrausend, lass es raus und dann ist auch wieder gut. So weiss er, woran er ist, gleichzeitig ist es auch anstrengend und manchmal laut. Er hingegen sagt lange nichts und ich merke, dass da was ist und es ihm nicht gut geht und ihm vor allem nicht gut tut, wenn er es in sich hinein frisst. Und wenn es dann kommt, dann kommts heftig oder es ist erschütternd. Mit Schweigen kann ich schlecht umgehen, Kopf in den Sand und warten bis es vorbei geht, dieses Verhalten macht mir Mühe. Geht es denn vorbei? Nein, es wird höchstens klein und scheint vergessen, doch es ist da, irgendwo weggepackt, aber noch da und wir tragen es mit uns herum. Wie Steine im Rucksack, in unserer Seele.

Coffee Talks
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Reden lernen ist Leben teilen, Anteil haben, sich kennenlernen. Für Beziehungen ist es ein Schlüssel und es ist eine Notwendigkeit. Wir brauchen eine Sprache, die der andere versteht. Eine gemeinsame Sprache zu sprechen ist eins, sich diese auch zu Nutze zu machen, das ist Arbeit. Es ist nicht nur sprechen, es ist auch zuhören. Genau hinhören.

Wir lernen mit unserem behinderten Sohn Gebärden nach Porta:

Weil Kommunikation Leben ist. Und Leben Kommunikation.

Der Vorgänger waren die Gebärden nach Portmann: "Wenn mir die Worte fehlen". Das sind einfache Gebärden, die ein Wort bedeuten und es gibt ein Piktogramm dazu. Unser Sohn kann nicht sprechen, er macht verschiedene Gesten und Laute und wir beobachten ihn, dann können wir ihn oft "lesen" und verstehen. Nein sagen kann er auch, indem er sich wegdreht oder etwas wegstösst, das er nicht will. Wenn wir ihn nicht verstehen oder er keinen anderen Ausdruck findet, dann schreit er. Manchmal vor Freude, manchmal voller Energie oder Müdigkeit, manchmal, wenn die innere Anspannung zu gross ist, ihn der Wetterwechsel plagt, die Reize von aussen zu gross sind. Da sind viele Situationen und diese "Manchmal-Momente" häufen sich. Das Ziel der Kommunikation ist, dass er verstanden wird und nicht, dass er sprechen lernt, wie seine gesunden Geschwister.


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Verstanden werden, das ist ein Grundbedürfnis und ich würde so weit gehen zu sagen, es ist lebenswichtig. Aggression entsteht oft dort, wo man nicht verstanden wird. Dann übermannen einen die Emotionen und es kommt unkontrolliert, eben aggressiv. Aggression richtet sich nicht immer gegen aussen, es kann sich gegen innen richten und macht gleich viel kaputt, es ist aber erst später im Leben sichtbar, welcher Schaden angerichtet wurde. In der Trotzphase kommen die Gefühle unkontrolliert, das erlebe ich im Moment täglich. Doch auch unsere Tochter wird lernen, mit ihrem eigenen Willen, ihren Emotionen und meinem Nein umzugehen. Als erwachsene Person kennt man keine Trotzphase, oder doch?

Jemanden zu verstehen, das ist nicht immer leicht, manchmal ist es sogar anstrengend! Wir lernen und doch lernen wir nie aus. Da ist einer, der versteht uns, ob wir reden oder schweigen, ja sagen oder auch nein. Gott ist ein Gott der Beziehung und er wünscht sich, dass wir mit ihm sprechen. Und ihm auch zuhören, denn er ist ein Gott, der spricht.

Wann hast du das letzte Mal mit Gott gesprochen?

Wenn mir die Worte fehlen
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